Schweigen ist eine menschliche Kommunikationsform, die je nach Kontext viele Äußerungsformen ermöglicht. Es gibt ein höfliches, bedeutungsvolles, zustimmendes, peinliches, strenges, trotziges, feiges und inniges Schweigen. Darüber hinaus ist Schweigen auch ein wesentliches Bindemittel in der Konstruktion des Sozialen. Schweigen fördert und sichert sozialen Zusammenhalt, es schweißt eine Gruppe und eine Gesellschaft zusammen. Wie die Diskurstheoretiker im Einzelnen gezeigt haben, wird die Gesellschaft wesentlich durch Besprechen und Beschweigen, durch Thematisierungs- und De- Thematisierungsregeln organisiert. Zentrale Begriffe, in denen diese Codes des Schweigens zusammengefasst werden, sind Takt und Tabu. Beiden unterliegt ein unterschiedlicher sozialer Pakt des Schweigens.
Takt ist das höfliche Schweigen. Es erlegt Zurückhaltung auf, die aus der Rücksichtnahme kommt und dem Schutz des Anderen dient. Über vieles darf in Anwesenheit anderer nicht geredet werden, weil es sie belasten, anschwärzen oder anderweitig in eine peinliche Lage bringen könnte.
Tabus dagegen betreffen Themen, über die niemand gerne spricht. Der Druck, der hier den Mund verschließt, ist kulturell so tief einverleibt, dass er gar nicht erst in explizite Verbote übersetzt werden muss, um befolgt zu werden. Starke soziale Gefühle wie Scham, Schuld und Abscheu sind die wichtigsten Motoren der Tabuisierung. Was jeweils von einer Gruppe de-thematisiert wird, unterliegt starken historischen Veränderungen. Über Sex und Geld zum Beispiel wurde in bürgerlichen Haushalten des 20. Jahrhunderts prinzipiell nicht gesprochen.
aus: Vortrag “Geheimnis, Schweigen, Reden” von Aleida Assmann am 31. Januar 2017 in Berlin beim 1. Öffentliche Hearing “Kindesmissbrauch im familiären Kontext” der Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
Aleida Assmann (* 1947) ist eine deutsche Anglistin, Ägyptologin und Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie forscht u.a. zum Thema “Kollektives Gedächtnis” und erhielt dafür zusammen mit ihrem Ehemann Jan Assmann 2017 den Balzan-Preis und 2018 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
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