Auszug aus der Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble am „Tag der deutschen Einheit“ am 3. Oktober 2018 in Berlin
[…] Demokratische Reife beweist deshalb eine Nation nur, wenn sie sich ihrer Fundamente sicher ist, die Vielheit annimmt und trotzdem zu gemeinsamen Handeln kommt: durch Kompromiss und für alle tragbare Entscheidungen, die allerdings nie auf Ewigkeit angelegt sind.
Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Meinungen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären: Das ist der gedankliche Schlüssel, um ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaffen.
Ohne den Willen, einander zuzuhören, ohne den Versuch, den anderen und seine Argumente zu verstehen, geht es nicht.
Das wird schwieriger in einer Gesellschaft, die sich immer weiter individualisiert. In der das Streben nach dem Eigenem, dem Besonderen jedes Interesse für das Allgemeine übersteigt.
Die rasante Entwicklung digitaler Kommunikationsmittel verleiht uns neue Freiheiten. Wir sind mit der ganzen Welt verbunden – ohne oft noch unser Gegenüber wahrzunehmen. Wir erleben es an Bahnhöfen, im Fahrstuhl, auch am Esstisch, bis in die Familien hinein. Täglich.
Unter der unendlichen Fülle von Möglichkeiten schwindet die Verbindlichkeit. Freiheit kann überfordern, wir neigen zu Übertreibungen. Es braucht deshalb Selbstbeschränkung, Maß und Mitte. Der Mensch ist auf Bindungen angewiesen. Er lebt in gesellschaftlichen Beziehungen. Die Freiheit des Einen begrenzt die des Anderen.
Unsere Ordnung baut auf dem Versprechen, allen die gleiche soziale und politische Teilhabe zu gewähren. Deshalb ist die Sorge vor zunehmender gesellschaftlicher Spaltung so ernst. Wir reden von sozialen Rissen und von Lebenswelten, die kulturell kaum mehr zueinander finden.
Streit ist notwendig. Der demokratische Zusammenhalt beweist sich gerade im Konflikt. Aber Gefahr entsteht da, wo wir uns nichts mehr zu sagen haben. Demokratische Willensbildung basiert auf Wettbewerb, auf Austausch und Verständigung. Wo das nicht mehr stattfindet, wird die Legitimation von Politik infrage gestellt.
Unsere Gesellschaft ist heute bunter, unübersichtlicher. Das macht sie konfliktreicher und Regeln noch wichtiger – vor allem die Durchsetzung dieser Regeln!
Vielfalt ist nicht nur ein Wort, um die gesellschaftliche Realität zu benennen. Sie ist ein Wert. Der Neugier fordert, Interesse am anderen, Austausch – auch um ihr das Bedrohliche zu nehmen, das manche dabei empfinden. Sich für die Herkunft des anderen zu interessieren, heißt nicht, ihn darauf zu reduzieren. Aber die Herkunft darf nicht dazu missbraucht werden, um herabzusetzen und auszugrenzen. Da müssen wir entschieden einschreiten, mit rechtsstaatlicher Härte, wenn Hass geschürt und Aggression auf die Straße getragen wird – von wem auch immer.
Wo Vielfalt herrscht, wird die Frage nach dem Verbindenden wichtiger. Wie wir miteinander leben wollen und mit anderen umgehen: Das ist auch eine Frage der Erziehung. Im Familiären erleben wir das Glück menschlicher Bindungen – und dass die Wünsche und Belange der anderen auch belastend sein können.
Gemeinsinn lässt sich staatlich nicht erzwingen. Die Politik kann aber Anreize schaffen – und sie sollte sich der Frage stellen: Wie erhalten und wie schaffen wir neue Orte, Zeit und Gelegenheiten, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Lebenswelten begegnen können? Wo sie miteinander kooperieren müssen.
Denn es braucht Gemeinsinn.
Und es braucht Verständnis für die wachsende Komplexität, unserer eigenen Gesellschaft – und für die Komplexität der Welt. […]
Wir geraten ständig in ein Dilemma.
Das müssen wir als Gesellschaft aushalten – und jeder von uns einen inneren Kompromiss finden. Um Wirklichkeit und Ideal zusammenzubringen.
Nur so erhalten wir uns politische Gestaltungsfähigkeit.
Das ist keine Anleitung zum Zynismus – und keine Lizenz für unmoralisches Handeln. Im Gegenteil: Ohne Haltung geht es nicht, einen klaren Standpunkt, an dem wir uns orientieren und unser Handeln ausrichten.
Aber wir sollten auch wieder lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen.
Es braucht mehr Gelassenheit.
Politik muss nicht immer schnelle, vor allem eindeutige Antworten haben. Sie sollte ehrlich eingestehen, dass sie nicht alle Widersprüche auflösen kann. Um unerfüllbaren Erwartungen vorzubauen, aus denen Enttäuschung wächst.
Das ist aber kein Freibrief dafür, nichts zu tun.
Wir sind es gewohnt, unsere Gegenwart als Krise zu beschreiben. Das ist nicht falsch. Die Erfahrung lehrt ja, dass wir uns in Krisen eher bewegen.
Aber statt nur darüber zu reden, was es abzuwehren gilt, was wir verlieren könnten, sollten wir auch auf Gestaltungschancen blicken. Darauf, was wir erreichen wollen!
Statt das Unbehagen an der Moderne zu pflegen, sollten wir unseren Horizont erweitern. So lässt sich Zukunft gestalten.
Die Zukunft ist offen. Aber den Zusammenhalt in der offenen Gesellschaft: Den dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Wenn es uns gelingt, individuelle Freiheit und Gemeinsinn zu verbinden, dann geht es diesem Land weiterhin gut – dann geht es uns gut.
Selbstvertrauen – Gelassenheit – Zuversicht: Sie bilden den Dreiklang eines zeitgemäßen Patriotismus. Eines Patriotismus für eine – im Wortsinne – selbst-bewusste Nation. Um das beste Deutschland, in dem wir das Glück haben zu leben, noch besser zu machen.
siehe auch: Streit um der Lösung willen. Antrittsrede Dr. Wolfgang Schäuble als Bundestagspräsident 24. Oktober 2017
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